Meine Erinnerungen…

Es ist nicht leicht, die Uhr 70 Jahre zurückzudrehen. Aber ich wollte schon immer meine Geschichte erzählen und jetzt scheint die beste Gelegenheit gekommen zu sein.


Stefanie Segermann mit Ihrer Familie

Stefanie Segermann mit Ihrer Familie (Kinder, Enkel und Urenkel) zu Besuch in Leipzig 2015

Ich wurde in Leipzig geboren und wuchs in einer großen, wunderschönen Villa mit einem hübschen Garten auf. Noch heute sehe ich die Kaninchenställe auf der linken Seite des Hauses vor mir. Dort spielte ich stundenlang mit meinen Hasen. Ich verlebte eine sehr glückliche Kindheit. Ich besaß alles, was sich ein kleines Mädchen wünschen konnte – wunderbare Eltern, einen großen Bruder, zu dem ich aufschauen konnte, mein geliebtes Kindermädchen und viele Freunde.

Meine Familie besaß ein sehr großes Geschäft für Herrenbekleidung im Stadtzentrum von Leipzig. Ich ging gern dorthin, weil es im Erdgeschoss eine große Rutsche gab, auf der die Kinder spielen konnten, während ihre Eltern einkauften. Oben war ein riesengroßer Clownskopf mit offenem Mund, aus dem eine lange Zunge ragte, das war die Rutschbahn. Ich sehe sie noch lebhaft vor mir, wenn ich daran denke. Ich war ein glückliches Kind in einem glücklichen Zuhause, ohne jegliche Sorgen.

Ich weiß nicht mehr genau, wann wir aus unserem großen Haus in eine Wohnung zogen, aber von dort holte man meinen Vater in der Kristallnacht ab. Ganz deutlich erinnere ich mich an diese Nacht. Um vier Uhr morgens wurde an die Tür gehämmert. (Mein Zimmer lag direkt neben der Eingangstür, deshalb stand ich als erste auf.) Als wir öffneten, drängten vier unrasierte, Furcht einflößende Gestapomänner herein. Mit vorgehaltenem Gewehr zwangen sie meine Mutter, ihnen zu zeigen, wo ihr Schmuck und das Geld aufbewahrt wurden.

Mein Vater hatte vom Ersten Weltkrieg ein gelähmtes Bein. Sie trieben ihn aus dem Bett und forderten ihn auf, sich unverzüglich anzuziehen. Auf dem Nachttisch lagen Englischlehrbücher. Die Eindringlinge spuckten darauf, zerrissen die Bücher und durchwühlten die ganze Wohnung. Meine Mutter steckte meinem Vater ein paar belegte Brote in die Jackentasche und raunte ihm zu, er solle die Treppe hinunterfallen. Wenn er verletzt wäre, würden sie ihn vielleicht nicht mitnehmen.

Er tat es nicht. Mein Vater wollte aufrecht aus dem Haus gehen, in seinem eigenen Tempo. Und so sahen wir ihn in diese lange, schwarz glänzende Limousine steigen. Sie verließen uns mit den Worten: „Geht, seht euch euer Geschäft und die Synagoge an!“ Wir verschlossen das Haus und stiegen ohne einen Pfennig Geld in ein Taxi. Der Fahrer kannte uns und hatte Mitgefühl mit uns.

Er erklärte, er würde uns kostenlos überallhin fahren. Wir baten ihn, an unserem Geschäft und an der Synagoge zu halten und uns dann zum Haus sehr guter Freunde zu fahren. Er war der leitende Professor des Leipziger Krankenhauses.

Es war nicht zu fassen, wie unser Geschäft aussah – nur das Gerippe eines Gebäudes! Innen war es völlig ausgebrannt und es verbrannten Hunderte von Stoffballen sowie Mäntel, Hemden, Pullover und Anzüge. ‚Welche Verschwendung von Material‘, dachte ich, die damals Neunjährige. ‚Man hätte es den Armen geben können!‘ Noch immer war mir nicht klar, was passierte, hatte ich doch niemals Antisemitismus erlebt, in der Schule nicht und auch sonst nirgendwo.

Ich erinnere mich, dass wir das ausgebrannte Gebäude betraten, um nach der elektrischen Eisenbahn zu suchen, die mein Bruder zu seiner Bar Mitzva (vergleichbar mit Konfirmation, die Übersetzerin) geschenkt bekommen hatte. Als wir unser großes Haus verlassen mussten, hatten wir sie im Geschäft deponiert.

Es war so unfassbar, dass von dem angrenzenden Gebäude nicht ein Zentimeter verkohlt war, nicht ein Fenster war beschädigt. Die Synagoge bot ein ähnliches Bild.

Wir kamen bei unseren Freunden an und dachten, wir könnten sie warnen, ihnen berichten, was passiert war, und was wir gesehen hatten. Und vielleicht wäre es ihnen noch möglich, das Land zu verlassen. Aber es war zu spät und wir hielten es für das Beste, gemeinsam zum Krankenhaus zu fahren, um zu sehen, ob wir uns nützlich machen könnten. Wir fanden ein Chaos vor. Über Nacht schienen die Angestellten verschwunden zu sein und Patienten, die aufstehen konnten, waren weggebracht worden. Wir gingen an die Arbeit. Wir bekamen weiße Kittel und meine Mutter und ich arbeiteten schwer, manchmal zwei Schichten. Ich arbeitete nicht mit meiner Mutter zusammen und wir schliefen auch nicht im gleichen Zimmer, aber das nahmen wir locker.

Wenn ich es jetzt bedenke: Die Arbeit, die ich damals verrichtete, wird von einer Krankenschwester im zweiten Ausbildungsjahr geleistet. Zum Beispiel machte ich zusammen mit den Schwestern nach einer Operation den Operationssaal sauber. Blut zu sehen bereitete mir kein Problem. Ich half, die Instrumente zu sterilisieren. Auf Station half ich den Schwestern, Wunden zu verbinden. Ich gab auch Essen aus und musste bedenken, dass dieses Tablett für einen Patienten bestimmt war, dem eine Hälfte des Magens entfernt worden war, und jenes für einen Diabetiker und so weiter. Man kannte mich als „Schwester Steffi.“

Jeden Morgen um 4 Uhr kam die Gestapo und brachte jeden weg, der aufstehen konnte. Ein Tag verging wie der andere und ständig mussten wir an meinen Vater denken: Wo war er? Und ging es ihm gut?

Eines Tages erreichte uns eine geschmuggelte Botschaft meines Vaters, aus der wir erfuhren, dass er auf der Polizeistation war und es ihm gut ging. Wir setzten alle Hebel in Bewegung, um ihn als „Patienten“ ins Krankenhaus einliefern zu lassen, sodass wir als Familie wieder vereint waren. Das erleichterte unsere Arbeit ungemein.

Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Situation andauerte, aber als wir schließlich in unsere Wohnung zurückkehrten, eröffneten mir meine Eltern, dass sie mich zu einer wunderbaren Familie nach England schicken würden und dass sie 8 Monate später nachkämen.

Es fiel mir schwer, das zu verstehen, aber ich akzeptierte es und als es Zeit wurde abzureisen, packte ich alles Lieblingsspielzeug ein, das ich mitnehmen wollte. Meine Mutter begleitete mich bis Utrecht, dort trennten wir uns. Und ich fuhr mit dem Kindertransport nach England.

Hinter den Kindertransporten steckte ein gewaltiger Organisationsapparat. Irgendwie versuchte man, Kinder in einer Familie und Umgebung unterzubringen, die ihrer eigenen ähnelte. Damit das funktionierte, wurde hinter den Kulissen viel Arbeit geleistet. In meinem Fall hatten meine Eltern der Familie in Liverpool, zu der ich kommen sollte, geschrieben und ihnen ein Foto von mir geschickt. Mein Bruder, der zu jener Zeit in der Schweiz studierte, schrieb ihnen alles über seine ‚kleine Schwester‘. Er schrieb, dass ich alle Kinderkrankheiten gehabt hätte, wie z. B. Windpocken und erwähnte auch, dass ich Tiere sehr mochte und als Erwachsene gern mit Hunden arbeiten wollte. Diesen Brief gibt es heute noch.

Als ich in Liverpool ankam, begrüßte mich die ganze Familie und nahm mich sehr freundlich auf. Es dauerte gar nicht lange und ich fühlte mich wie zu Hause. Ich wuchs zusammen mit ihrer Tochter auf und wir waren wie Schwestern, hatten ein sehr enges Verhältnis zueinander. Ich war die Ältere von uns beiden. (Es gab noch einen großen Bruder, aber er war bei der Airforce.) Wenn ich wollte, durfte ich abends länger aufbleiben, aber wir gingen gern zur gleichen Zeit schlafen. Bis zum heutigen Tag haben wir ein wunderbares Verhältnis und ich stehe in engem Kontakt mit allen Cousins, Tanten und Onkeln. Also, soweit es mich betraf, war die Organisation durch den Kindertransport perfekt: Ich hatte ein schönes Zuhause verlassen und kam in ein anderes schönes Zuhause. So lange wie möglich blieb ich mit meinen Eltern in Verbindung.

Natürlich war es ihnen nicht möglich, 8 Monate später zu mir nach England zu kommen, wie sie es versprochen hatten. Sie wurden nach Theresienstadt deportiert. Durch das Rote Kreuz erfuhren wir, dass mein Vater 1942 „starb“ und meine Mutter 1944. Wir haben uns nie wiedergesehen.

Steffi Segerman, geborene Bamberger

Merken

Merken

Merken